Wir brauchen schnellstmöglich einen Plan für die Festlandindustrie

Jan Christian Vestre, Geschäftsführender Direktor von Vestre

Die norwegische Regierung unter Ministerpräsidentin Erna Solberg hat den Haushaltsplan für 2021 vorgestellt. Ebenso wie andere führende Vertreter aus der norwegischen Industrie wartete ich vor meinem PC und war gespannt, ob mein größter Wunsch erfüllt werden würde: ein deutliches Signal, dass Norwegen zukünftig die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt, um eine nachhaltige, umweltfreundliche und profitable Festlandindustrie in unserem Land aufzubauen.

Mein Wunsch wurde vielleicht nicht zu 100 Prozent erfüllt, trotzdem freue ich mich darüber, dass die Regierung es als wichtig erachtet, mehr Wirtschaftszweige zu entwickeln, um in den kommenden Jahren eine gesunde Basis zu haben.

Höchste Zeit, würde ich sagen.

Denn wenn wir die Möglichkeiten nicht bald nutzen, wird der Wegfall der Einnahmen aus dem Erdöl- und Gassektor für Norwegen wesentlich härter zu verkraften sein, als es sein muss.

Ein neues, umweltfreundliches Industriemärchen

In den letzten Jahren wurde viel über die Notwendigkeit einer grünen Wende geredet. Um die Ziele des Übereinkommens von Paris von 2015 zu erreichen, müssen wir den Ausstoß von Treibhausgasen vermindern. Dies geschieht in der Praxis leider äußerst selten. Zudem investieren wir weiterhin mehr in Erdöl und Gas als in die Festlandindustrie. Als Leiter eines Unternehmens vermisse ich eine deutliche nationale Strategie für Investitionen in die Festlandindustrie. Eine solche Strategie wird jedoch in absehbarer Zeit zwingend erforderlich sein.

Schaut man sich die norwegischen Exportzahlen an, ohne die Einkünfte aus dem Erdöl- und Gassektor einzurechnen, gibt es nämlich Grund zur Besorgnis. Das Handelsdefizit der Festlandwirtschaft steigt seit zehn Jahren unaufhörlich, von 179 Milliarden NOK 2010 auf 401 Milliarden NOK 2019. Laut dem norwegischen Zentralamt für Statistik (SSB) muss der Exportanteil der Festlandwirtschaft mehr als verdoppelt werden, wenn wir die allmählichen Einkommenseinbußen aus dem Verkauf von Erdöl und Gas kompensieren wollen. Heute sind wir von diesem Ziel noch weit entfernt.

Große Umstellung

Meiner Ansicht nach sollte das norwegische Parlament sich für einen umfassenden Umstellungsplan einsetzen. Im Laufe von zehn Jahren muss das Ziel eine Verdoppelung der Festlandinvestitionen sein, so dass das Exportvolumen ebenfalls verdoppelt werden kann. Dies ist wie gesagt höchste Zeit. Denn wir investierten während der Finanzkrise 2008 tatsächlich mehr in die Festlandindustrie als 2019 – bevor wir von der Pandemie getroffen wurden. Die Schweden investieren dreimal so viel in ihre Industrie und hatten in den letzten fünf Jahren eine 65 Prozent höhere Wachstumsrate als wir. Im Zeitraum 2015–2019 hatte Norwegen von den nordischen Ländern das geringste wirtschaftliche Wachstum. 2019 gab es in Europa nur vier Länder, die ein geringeres Wachstum hatten als wir.

Wir müssen uns schlicht und einfach zusammensetzen – ungeachtet der Branche und politischer Zugehörigkeit – und herausfinden, wie wir konkret vorgehen können, um das Exportvolumen unserer wichtigsten Festlandwirtschaftszweige zu verdoppeln, von der Produktion von Fertigerzeugnissen über Forstindustrie bis zur Aluminiumindustrie, Fischerei und Meereswindkraft.

Was wir nun brauchen ist eine dynamische Wirtschaftspolitik, die sich rasch umstellen und Wirtschaftszweige unterstützen kann, die globale Wachstumsfähigkeit zeigen.

Norwegische Vorteile

Wir leben seit vielen Jahren gut von einem Wirtschaftszweig, für den wir vorteilhafte, naturgegebene Voraussetzungen haben. Glücklicherweise sind Erdöl und Gas nicht die einzigen Vorteile, die wir hierzulande haben. Beim Aufbau für ein neues grünes Industriemärchen haben wir nämlich viele Vorteile:

Zum einen können wir unsere Industrie mit nahezu 100 Prozent erneuerbarer Energie versorgen. In China liegt der erneuerbare Anteil unter 20 Prozent. In einer Welt, die ihre Emissionen verringern möchte, ist das für Norwegen ein großer Vorteil. Gleichzeitig stehen uns große Mengen an einigen der weltweit nachhaltigsten Rohstoffe zur Verfügung. Keiner produziert umweltfreundlicheres Aluminium als wir, um nur ein Beispiel zu nennen. Als Bevölkerung sind wir anpassungsfähig und qualitativ hochwertig ausgebildet.

Und ja, wir haben wahrscheinlich ein hohes Lohnniveau, aber wenn wir die durch zunehmende Robotisierung, Automatisierung und Digitalisierung entstehenden Möglichkeiten nutzen, werden wir trotzdem wettbewerbsfähig sein können. Denn der Weltmarkt verlangt nach norwegischen Markenprodukten. Meiner Ansicht nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir beginnen uns zu fragen, weshalb wir eigentlich so viel unserer Industrie ins Ausland verlagert haben.

Denn die Möglichkeiten sind da, direkt vor unserer Nase.

Mehrere Standbeine

Als Geschäftsführer des Möbelherstellers Vestre bin ich stolz darauf, das Familienunternehmen weiterzuführen. Seit mein Großvater Johannes Vestre 1947 seine ersten Sägeklemmen in einer alten deutschen Militärbaracke herstellte, produziert Vestre in Norwegen nachhaltige Qualitätsprodukte. Heute stehen unsere Möbel auf der ganzen Welt, vom Times Square in New York bis Aker Brygge in Oslo. Jetzt beginnen wir mit dem Bau von The Plus, der weltweit nachhaltigsten Möbelfabrik.

Ich erwähne all das nicht um anzugeben, sondern um zu zeigen, dass es tatsächlich möglich ist, ein nachhaltiges und exportorientiertes Unternehmen aufzubauen, ohne in sogenannten „Niedriglohnländern“ zu produzieren. Und wenn Vestre das kann, können es mehr Unternehmen tun.

„Wir müssen Ambitionen haben, die Wirtschaftszweige zu unterstützen, die Wettbewerbsvorteile haben, und diese mit konkreten Möglichkeiten auf den Weltmärkten koppeln“, steht im Exportmaßnahmenplan der Regierung. Da kann ich nur zustimmen!

Lassen Sie uns also den enormen Handlungsspielraum, den wir haben, nutzen, um eine nachhaltige Festlandindustrie aufzubauen – und uns gleichzeitig mehrere Standbeine zu verschaffen.