Proxemik: Raumverständnis und Distanzzonen in sozialen Interaktionen

Haben Sie sich jemals gefragt, warum Small Talk in einem Fahrstuhl unangenehm ist oder warum man selten mehr als zwei Personen auf einer Bank sitzen sieht? Eine Antwort liefert die sogenannte Proxemik: eine These, die der US-amerikanische Anthropologe Edward T. Hall (1914-2009) in den 1960er-Jahren aufgestellt hat. Er beobachtete, dass wir zu den Menschen in unserer Umgebung unterschiedlich große Abstände einhalten, je nachdem, wie gut wir sie kennen und in welcher Situation wir uns befinden. Dieser Aspekt der nonverbalen Kommunikation spielt eine wichtige Rolle in unseren sozialen Interaktionen.

Von Allan Hagerup

Vier Distanzzonen

Laut Halls Theorie vom Raumverständnis lassen sich die Abstände in vier Zonen einteilen, die je nach Kulturraum und je nach der Beziehung zu den anderen Personen unterschiedlich groß ausfallen.

Die innerste Zone nennt sich „Intimdistanz“ und ist Familienangehörigen und guten Freund:innen vorbehalten. Der Abstand fällt so gering aus, dass man einander umarmen und etwas ins Ohr flüstern kann.

Die „persönliche Distanz“ wird bei entspannten Gesprächen unter Freund:innen oder beim Familienessen gewahrt. Die „soziale Distanz“ gilt bei Gesprächen unter Arbeitskolleg:innen und entfernteren Bekannten. Dabei ist der Umgangston höflich und professionell und es wird selbst bei informellem Small Talk ein natürlicher Abstand eingehalten.

Die vierte Kategorie namens „öffentliche Distanz“ ist typisch für einseitige Kommunikation zu einer Gruppe, zum Beispiel wenn Lehrer:innen vor einer Klasse unterrichten.

Im Alltag bewegen wir uns zwischen diesen Distanzzonen und bemühen uns stets darum, unsere persönliche Sphäre zu wahren und zu vermeiden, in jene von anderen einzudringen. Die Beispiele am Beginn veranschaulichen dieses Prinzip: In einem engen Raum wie einem Aufzug gerät man unweigerlich in die intime oder persönliche Distanzzone, die eigentlich für vertraute Personen reserviert ist. In so einer Situation fehlt die Möglichkeit, ein Gespräch durch die üblichen nonverbalen Signale sowie durch Weggehen zu beenden. Dieses ungewollte Eindringen kann Stress und Unbehagen auslösen.

Auf einer langen Bank können zwei Fremde an den entgegengesetzten Enden sitzen und so jeweils ihre persönliche Distanzzone wahren. Wenn sich eine dritte Person in die Mitte setzt, überlappen sich die Distanzzonen, was als eindringlich wahrgenommen wird.


Die Rolle der Sinne im sozialen Austausch


Wir nehmen die Welt um uns herum über unsere Sinne wahr. Dabei herrscht der Sehsinn vor, der es uns ermöglicht, Personen zu identifizieren und deren Körpersprache und Bewegungen auszumachen – und zwar aus einer Entfernung von bis zu hundert Metern. Wir beobachten gerne andere Leute, doch wir lassen uns nur aus einer geringen Entfernung wirklich auf sie ein. Die Mimik nehmen wir nämlich erst aus etwa 20-25 Metern wahr, und wenn wir noch näher zusammenrücken, kommen wir ins Gespräch. Doch erst wenn wir in die persönliche und intime Distanzzone kommen, werden auch Geruchs- und Tastsinn aktiviert.

Wenn man die Proxemik bei der Gestaltung öffentlicher Plätze berücksichtigt, kommen nicht nur die räumlichen Dimensionen ins Spiel, sondern auch das persönliche Raumverständnis der Menschen. So entstehen Treffpunkte, die die Sinne und Vorlieben auf intuitiver Ebene ansprechen. Solche Orte vermitteln den Besucher:innen Geborgenheit: Sie fühlen sich sicher genug, um mit anderen in den Dialog zu treten.

Von der Theorie in die Praxis

Die folgenden Punkte ermöglichen eine erfolgreiche Übertragung der Proxemik auf die Gestaltung von öffentlichen Räumen:

  • Distanzzonen respektieren: Offene, geräumige Bänke erlauben es den Benutzer:innen, die Abstände untereinander anzupassen und auch die Sitzrichtung zu wählen. Bewegliche Möbel sind bei engeren Platzverhältnissen eine gute Alternative.
  • Möbel mit unterschiedlichen Abständen aufstellen: So ergibt sich eine einladende Landschaft, in der man sich für Begegnungen öffnen oder auch abgeschieden sitzen kann.
  • Kreativität zulassen: Die Nutzung des Bereichs sollte nicht durch die Vorgabe zu vieler bestimmter sozialer Konstellationen eingeschränkt werden. Stattdessen bieten sich flexible Möbelkonfigurationen und großzügige Möbelstücke an, die sich für mehrere unterschiedliche Situationen eignen.
  • Eck-Variationen schaffen: Einerseits sollte es geschützte Ecken für vertrauliche Gespräche geben. Andererseits kann man eine Reihe aus Bänken unterbrechen, indem man zwischendurch Bänke im 90-Grad-Winkel zueinander aufstellt. Das ermöglicht Gespräche mit Blickkontakt.
  • Möbel zum „Leutegucken“: Wer auf gleicher Höhe und mit Blick auf einen belebten Platz sitzt, kann durch Beobachten am Geschehen teilhaben.
  • Kleinteiligkeit schafft Sinnlichkeit: Ausladende Freiflächen mit großen Abständen zwischen Gebäuden und Menschen sind für unsere Sinne schwer zu begreifen. Deswegen sollte man den Raum durch Bäume, Bepflanzungen, Springbrunnen oder größere Sitzinseln in überschaubare Bereiche unterteilen.
  • Ausreichend Sitzgelegenheiten bereitstellen: Studien haben gezeigt, dass hoch frequentierte öffentliche Plätze mindestens ein Zehntel ihrer Fläche in Sitzgelegenheiten investieren sollten.
  • Zum Verweilen einladen: Öffentliche Plätze, die die Sinne ansprechen und zu einer Verschnaufpause anregen, bringen die Passant:innen dazu, auch den Rest der Umgebung zu erkunden und Angebote wie Geschäfte, Aktivitäten und Gaststätten zu nutzen.

Design im Dienst des Dialogs

Mein Interesse an der Proxemik wurde während des Studiums geweckt, als ich mich mit dem Entwerfen von Bänken für öffentliche Plätze beschäftigte. Ich beobachtete, dass die Leute beim Hinsetzen oft etwa eine Armlänge Abstand zu Fremden hielten. Es zeigte sich außerdem, dass unser Sehsinn maßgeblich dazu beiträgt, wie wir das Zusammensitzen auf Bänken erleben. Auf einer zweiseitigen Bank sitzen Fremde beispielsweise Rücken an Rücken – also ziemlich nah, aber sie sehen einander ja nicht. Sobald sie einander im Blick haben, wahren sie die angemessene soziale Distanz.

Die Anordnung der Sitzflächen beeinflusst also stark, wie Menschen den Abstand zu anderen wahrnehmen. Auf einer geschwungenen oder kreisförmigen Bank entsteht im Inneren der Rundung eine Art soziale Zone, in der sich die Menschen wie selbstverständlich gegenübersitzen. Wer hingegen am äußeren Rand sitzt, kann sich so abwenden, dass er nicht in die soziale Distanzzone des/der Nachbar:in eindringt. Die klassische rechteckige Stadtbank stellt einen Kompromiss dar: Fremde können nebeneinandersitzen und einander dabei nur aus dem Augenwinkel sehen, während Bekannte zusammenrücken und sich unterhalten.

Diese Beobachtungen haben mich beim Entwerfen der Bank DIALOG inspiriert. Ich habe mich für eine klassische rechteckige Sitzfläche entschieden, wollte aber dezent zur Interaktion anregen. Die Lösung war eine organisch wirkende Einkerbung auf beiden Seiten der Sitzfläche: Sie soll bewirken, dass man sich intuitiv zur Seite neigt und so ins Gespräch kommt. Auf den ersten Blick erweckt das Design den Eindruck, dass ins Gespräch vertiefte Leute über die Jahre auf die Form der Bank eingewirkt haben und Teile der Sitzfläche abgenutzt haben. Dieser Trick schafft nicht nur eine optische, sondern auch eine ergonomische Einladung zum namensgebenden Zwiegespräch.

Die Bank DIALOG besteht aus Massivholz, das nicht nur optimal zum organischen Design passt, sondern auch bei allen Temperaturen für Sitzkomfort sorgt.